
Durch die Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) im Jahr 2024 konnte die Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden durch angemessene Geschwindigkeiten“, die neben Bremen 1130 weitere Kommunen als Mitglieder hat, einen wichtigen Erfolg erzielen: erweiterte kommunale Gestaltungsspielräume bei der Einrichtung und Ausweitung von Tempo-30-Zonen. Von dem durch die Veränderung der kommunalen Spielräume zu erwartenden Schwung ist in Bremen noch nichts zu spüren!
Bereits heute existieren in Bremen über 700 – zum Teil sehr kurze – Abschnitte mit Tempo 30 km/h. Die neue Rechtslage ermöglicht nun den sogenannten „Lückenschluss“ zwischen bestehenden 30er-Zonen und vereinfacht deren Einrichtung erheblich. Das gilt insbesondere an Fußgängerwegen, Spielplätzen, stark frequentierten Schulwegen und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Der Senat prüft derzeit die Möglichkeiten und plant, im Frühjahr 2026 mit der Umsetzung zu beginnen.
Ein häufig genanntes Argument gegen 30er-Zonen ist die Befürchtung, dass sie die Fahrzeiten verlängern und zu Staus beitragen. Werktags erreicht der Autoverkehr in Bremen durchschnittlich nur 42 km/h – und im Feierabendverkehr oft sogar nur unter 25 km/h.
Übersicht: Neue Flexibilität durch die StVO-Reform 2024
- Lückenschluss bis 500 m: Zwischen zwei bestehenden Tempo-30-Abschnitten dürfen Kommunen
nun Lücken bis zu 500 m ohne zusätzliche Begründung schließen (bisher max. 300 m)
- Erweiterter Ausnahmekatalog für Tempo 30
Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 30 km/h sind jetzt erleichtert möglich
- im Umfeld von Schulen, Kitas und Kindergärten
- an Spielplätzen und Zebrastreifen
- auf stark frequentierten Schulwegen
- vor Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und Einrichtungen für Menschen mit
Behinderungen
- Wegfall der besonderen Gefahrenlage
Für die genannten sensiblen Bereiche entfällt der Nachweis einer „besonderen örtlichen
Gefahrenlage“; Tempo 30 kann „in der Regel“ angeordnet werden
- Vereinfachte Anordnung von Bus- und ÖPNV-Spuren
Bussonderfahrstreifen und bevorzugte Ampelregelungen für Linienbusse dürfen ohne Nachweis
eines Mindestaufkommens angeordnet werden; zeitliche und örtliche Einschränkungen entfallen
Die Londoner Studie
Hinweis: Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, werden im folgenden anstatt der in der Studie verwendeten mph Werte ihr km/h Äquivalent verwendet.
Ein Blick nach London zeigt eindrucksvoll, warum Bremen und andere deutsche Städte auf ausgeweitete 30-km/h-Zonen setzten sollten und ihre Ausweitung konsequent fortführen sollten. Eine Langzeitstudie von Transport for London (TfL) belegt, dass in den zwischen 1989 und 2013 eingeführten 30-km/h-Zonen nicht nur die Unfallzahlen drastisch sanken, sondern auch die schweren Unfälle deutlich abnahmen.
Vision Zero – das Ziel, keine Verkehrstoten und weniger Schwerverletzte zu haben– ist Teil der Londoner Verkehrspolitik und bildet auch eine Leitlinie des Bremer Verkehrsentwicklungsplans (VEP) 2025. Ist das ein realistisches Ziel? Mit den skandinavischen Städten Oslo und Helsinki gibt erste Beispiele für eine gelungene Umsetzung. So gab es dort bereits 2018 bzw. 2019 keine getöteten Radfahrer*innen und Fußgänger*innen mehr. Die Londoner Studie unterstreicht, dass 30er-Zonen einen wichtigen Beitrag zur Erreichung des Ziels beitragen können.
Die folgende Grafik veranschaulicht den dramatischen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen Straßen mit und ohne neue Geschwindigkeitsbegrenzung:

In absoluten Zahlen konnte die Studie einen Rückgang von 380 auf 251 Schwerverletzte und von 15 auf 9 Verkehrstote feststellen. Dabei weisen alle Verkehrsarten außer Motorräder verringerte Unfallzahlen auf. Diese Rückgänge übertreffen den ohnehin positiven allgemeinen Trend auf allen Londoner Straßen und beweisen: Tempo-30 kann Leben retten – auch hierzulande.
Mehr als nur Sicherheit: Lebensqualität und Umwelt
Neben den geringeren Unfällen weist die Tfl-Studie noch auf weitere positive Effekte hin:
– Mehr Fuß- und Radverkehr: Straßen werden als sicherer empfunden. 19% der Befragten aus 30-km/h-Straßen gaben an, ihre Fußwege erhöht zu haben, während nur 8% der Befragten aus 50-km/h-Straßen dies berichteten.
– Minimale Reisezeitverlängerungen: Pendelnde verlieren in der Praxis kaum Zeit.
– Keine erhöhten Emissionen: Da gleichmäßiger gefahren wird, steigen Emissionen nicht. Andere Studien weisen sogar auf einen Rückgang hin.
– Weniger Lärm: Der Lärmpegel sinkt merklich, das Wohnumfeld gewinnt an Ruhe. Bei 30 km/h gegenüber 50 km/h ist die Lautstärke um 2-3 Dezibel geringer ist, was Menschen als Halbierung wahrnehmen (Weber-Fechner-Gesetz).
Bemerkenswert ist dabei die 78% Zugstimmungsquote der Londoner Bevölkerung zu den Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die Gründe für die hohe Zustimmung sind vor allem die nachweislichen Sicherheitsgewinne, der Schutz von Kindern, die ruhigeren Straßen, die Förderung von mehr Gelegenheiten zum Gehen und Radfahren und die gelungene Kommunikation dieser Vorteile in Kombination mit den verkehrspolitischen Konzepten. Am eigenen Wohnort fallen die Vorteile besonders deutlich auf. All diese Effekte sollten zusätzliche Anreize für Bremen sein. Insbesondere an der Kommunikation sollte Bremen sich ein Beispiel nehmen und den Menschen am eigenen Lebensumfeld aufzeigen, wie sie von 30er Zonen profitieren. Eine ruhige, lebenswertere Stadt entsteht dort, wo Tempo 30 gilt – ohne das Autofahrer*innen nennenswerte Nachteile.
Erkenntnisse aus Edinburgh und Europa
Nicht nur London liefert überzeugende Belege für die Wirksamkeit von Tempo 30:
– Edinburgh (2024): Auch hier werden signifikant weniger Unfälle in 30-km/h-Zonen gemeldet.
– Europäische Metastudie: Eine Untersuchung von 40 europäische Städte dokumentiert nach der Einführung von 30-km/h-Zonen durchschnittliche Rückgänge um 23% bei Unfällen, 37% bei Verkehrstoten und 38% bei Verletzten.
Besonders profitieren Fußgänger*innen, Radfahrende, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung und Kinder von diesen Maßnahmen.
Forschungsergebnisse aus Deutschland
Auch in Deutschland wurden die Auswirkungen von 30er-Zonen bereits untersucht: So wurden in Niedersachsen auf sechs stark befahrenen innerörtlichen Hauptstraßen ein Jahr lang Tempo 30 anstelle von Tempo 50 getestet. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen positive Effekte:
– Der Verkehrsfluss verläuft gleichmäßiger und Staus nehmen ab
– Die Lärmbelastung für Anwohner*innen ist deutlich gesunken
– Die Luftqualität hat sich leicht verbessert
– Die Zahl der Unfälle mit Schwerverletzten nahm deutlich ab, auch die absolute Zahl der Unfälle ungefähr gleich blieb.
Eine Studie des Umweltbundesamts stellte einen Rückgang der CO₂-Emissionen in 30er-Zonen um bis zu 5,5% fest. Die Zahlen unterscheiden sich ortabhängig allerdings deutlich – an einzelnen Orten fällt der Rückgang deutlich geringer aus. An allen untersuchten Standorten wurde jedoch ein Rückgang festgestellt.
Problemfall ÖPNV
Verkehrsbetrieben befürchten, dass flächendeckendes Tempo 30 zu längeren Fahrzeiten und damit zu Mehrkosten für zusätzliches Fahrzeuge und Personal führt. Die StVO-Reform 2024 schafft jedoch neue Flexibilität für Busspuren und ÖPNV-Bevorrechtigung. Dadurch können Fahrzeitverlängerungen von durchschnittlich nur 1,5 Sekunden pro 100 Meter kompensiert werden. Zudem sind auch weitere verkehrliche Maßnahmen denkbar, die die Fahrtzeitverlängerungen ausgleichen.
Ein Blick nach Bremerhaven
Bremerhaven hat sich nicht dem Städtebündnis „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ angeschlossen. Aber: Immerhin sind aktuell sind bereits rund 60% der Straßen in Bremerhaven auf Tempo 30 beschränkt – darunter auch zentrale Hauptachsen. Im Zuge der Fortschreibung des Lärmaktionsplans prüft der Magistrat nun weitere Lückenschlüsse zwischen den bestehenden Bereichen.
Zonenerweiterung zügig umsetzen, Lücken schließen!
In Bremen fehlen noch umfassende Studien zu den bereits eingeführten 30-km/h-Bereichen. Doch angesichts der eindeutigen Erfahrungen aus London, Edinburgh und Europa ist das Ergebnis vorhersehbar: weniger Unfälle, weniger Tote, mehr Lebensqualität. Durch StVO-Änderung vom Oktober 2024 wurden die Möglichkeiten zur Ausweitung von 30er-Zonen deutlich erweitert.
Der Senat sollte daher die Prüfung der Erweiterung von Tempo-30-Zonen zügig umsetzen, d.h. zunächst die Lücken schließen und kontinuierlich prüfen an welchen Stellen eine weitere Ausweitung sinnvoll wäre. Außerdem sollten die durch Tempo 30 entstehenden ÖPNV-Mehrkosten unbürokratisch und vollständig ausgeglichen werden und gleichzeitig verstärkt Busspuren priorisieren werden, um die Attraktivität des öffentlichen Nahverkehrs zu sichern. Bremen sollte dem Beispiel anderer Städte folgen und ein unbürokratisches Verfahren für ÖPNV-Korridore und Ampel-Bevorrechtigung etablieren. Die Kommunen in Bremen und Bremerhaven und auch bundesweit – müssen die neu gewonnen Handlungsspielräume endlich ausschöpfen: zum Schutz von Menschen und Klima.