
Als die Landesnahverkehrgesellschaft Niedersachsen (LNVG) im März 2021 stolz die Bestellung von 34 neue elektrischen Doppelstocktriebzüge vom Typ Coradia Stream HC für das Expresskreuz Bremen/Niedersachsen (EBN) bei der Firma Alstrom bekannt gab, war die Welt noch in Orndung. Mehr als 4 Jahre später, rollen die neuen Züge noch immer nicht. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2024 hätten die Triebzüge erstmals ihren Dienst antreten sollen. Doch stattdessen müssen sich die Fahrgäste auf eine längere Verspätung und ein Ersatzkonzept einstellen.
Im ersten Teil unserer Reihe sind wir bereits auf die Bedeutung des Expresskreuzes und die Probleme mit der Barrierefreiheit eingegangen. Teil 2 widmet sich den Verzögerungen und dem Ersatzkonzept.
Chronik der Verzögerungen: Ein Aufschub nach dem anderen
Der Bestellung der Doppelstocktriebzüge im März 2021 ging ein langes Ausschreibungsverfahren voraus, das die Einschätzung der Machbarkeit, die neuen Züge bis Dezember 2024 zu liefern und die Eignung von Alstom für den Auftrag, eigentlich gewährleisten sollte. Doch nach Vergabe des millionenschweren Auftrags verschob Alstom bis heute vier Mal die Lieferung:
- Ende 2022 wird die Lieferung bis Dezember 2024 auf 10 Züge begrenzt, der Rest soll 2025 folgen.
- Dezember 2023 verschob sich die Lieferung der ersten Züge erneut – nun auf Sommer 2025.
- August 2024 wird verkündet, 20 Züge kämen erst Ende 2025, der Rest im darauffolgenden Jahr.
- November 2024 wird der Liefertermin auf März 2026 geschoben, einhergehend die Andeutung, es könne sich noch in den Sommer 2026 ziehen.
Als Gründe für die Verzögerungen nennt Alstom Lieferkettenprobleme und Personalausfälle, die mit der Corona-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zusammen hingen. Weitere Komplikationen sind durchaus möglich: Sollten die Behindertenverbände und die Landesbehindertenbeauftragten von Bremen und Niedersachsen, ihre durchaus berechtigte Klageandrohung wahr machen, dürfte es zu weiteren Verzögerungen kommen. Das beträfe immerhin täglich 40.000 Menschen, die im EBN unterwegs sind.
Ein entbehrungsreiches Ersatzkonzept für frustrierte Fahrgäste
Die mehrfachen Verschiebungen haben seit Dezember 2024 spürbare Folgen für die Fahrgäste. Weil die neuen Züge nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen, muss ein Ersatzkonzept herhalten: Die alten Doppelstockzüge waren zum Teil schon für andere Nutzungen verplant und so kommen ersatzweise ältere Triebwagen zum Einsatz. Das bedeutet für die Fahrgäste weniger Sitzplätze und Komforteinbußen, besonders auf den stark frequentierten Linien. Auf der Linie des RE1 (Hannover – Bremen – Oldenburg – Norddeich Mole) fahren immerhin weiterhin die bekannten roten Doppelstock-Züge, deren größtes Manko ein eingeschränkt verfügbares WLAN ist. Auf der RE8 (Hannover – Bremen – Bremerhaven-Lehe) und RE9 (Osnabrück – Bremen – Bremerhaven-Lehe) kommen allerdings noch ältere Fahrzeuge mit einer verringerten Sitzplatzanzahl zum Einsatz. Auch die Barrierefreiheit ist hier ein Problem und die Fahrradmitnahme ist nur eingeschränkt möglich.
Die geplante Direktverbindung zwischen Hannover und Wilhelmshaven verzögert sich damit ebenfalls. Die Aufteilung der Züge in Oldenburg ist erst mit der vollständigen Auslieferung der Alstomzüge möglich. Für Pendler*innen und Reisende bleibt das Angebot damit vorerst deutlich hinter den ursprünglichen Versprechen zurück. Die nun für das erste Quartal 2026 versprochenen Züge sollen nach aktuellem Stand dann ab Sommer auf den Linien des RE8 und des RE9 zum Einsatz kommen. Sollten weitere Verzögerungen tatsächlich eintreten, bedeutet das für die Strecke zwischen Osnabrück und Bremerhaven-Lehe schweißtreibende Aussichten in überfüllten Waggons: Die alten Züge auf dieser Linie haben nämlich keine Klimatisierung.
Und die Folgen für Alstom und die LNVG?
Die wiederholten Verzögerungen werfen ein Schlaglicht auf die Vergabepraxis im Bahnsektor. Einerseits wird nämlich von Seiten Alstoms an einem Arbeitsplatzrückbau in Deutschland gewerkelt, um die Produktion kostengünstiger in Osteuropa durchzuführen. Das Werk in Salzgitter, das für den Wagenkastenrohbau der neuen Cordia Stream HC verantwortlich ist, wäre ebenfalls betroffen – allerdings ist bis 2025 eine Standortsicherung zugesichert worden, die auch die Arbeitsplätze vor Ort betrifft. Arbeitsplatzsicherung und regionale Produktion können also durchaus eine Rolle gespielt haben, bei der Vergabe des Auftrags an Alstom.
Andererseits muss die parallel ablaufende Auftragsflut bei Alstom benannt werden. So hat das norwegische Unternehmen Norske Tog bei Alstom insgesamt 55 neue Züge geordert, die ursprünglich 2024 anlaufen sollten. Das Auslieferungsdatum wurden bisher zwei mal, aktuell auch bis 2026 verschoben. Die notwendige Modernisierung der Zugflotte wurde so ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen und auf den Strecken fahren veraltete Modelle. Die Hamburger Hochbahn hat einen eigenen, milliardenschweren Auftrag an Alstom erteilt. Bisher rechnet man noch mit einer pünktlichen Lieferung der ersten Züge bis zum Jahr 2028.
Trotz der massiven Verzögerungen gibt es kaum spürbare Konsequenzen für den Zughersteller. Rechtliche Schritte zur Kompensation der entstandenen Schäden werden im Fall des Expresskreuzes Bremen/Niedersachsen zwar geprüft. Darüber hinaus ist das Image aber noch intakt genug, um weitere Großaufträge, wie den aus Hamburg, an Land zu ziehen. Der Verkehrswende ist durch die Unzuverlässigkeit Alstoms hingegen ein Bärendienst erwiesen worden: Unzufriedene Fahrgäste wechseln im Zweifel wieder von der Schiene auf die Straße, das Vertrauen in die Machbarkeit eines modernisierten und ausgebauten Schienenverkehrs sinkt und auch der Rückbau von Arbeitsplätzen, in einer Schlüsselindustrie der Verkehrswende, sendet die falschen Signale.