
Wir haben die Bremer Abgeordneten Michael Jonitz (CDU, links) und Ralph Saxe (Bündnis 90/Die Grünen, rechts) in der Bremer Bürgerschaft getroffen, um mit ihnen über eine gemeinsame Fachreise im Juli nach Wien zu sprechen. Sie schilderten uns ihre Eindrücke aus Wien und sprachen mit uns auch über verkehrspolitische Themen in Bremen. Aufgrund der Länge des Gespräches geben wir hier nur Auszüge aus der teilweise auch hitzigen Debatte wieder. Das sagten sie …
… über ihre Allgemeinen Eindrücke der Verkehrssituation in Wien:
Michael Jonitz
Verkehrstechnisch ist Wien eine Millionenstadt, ein bisschen chaotisch, sehr bemüht und mit einigen Dingen, die vielleicht etwas anders sind als bei uns hier in Bremen, die auch ein Stück weit gewöhnungsbedürftig sind. Also zum Beispiel haben wir festgestellt, dass E-Roller, die unter 25 km/h fahren, als Fahrräder gelten. Es war durchaus eine Herausforderung, den Dingern auszuweichen, weil sie auch von Lieferanten sehr häufig genutzt werden. Außerdem war auffällig, dass sie in Wien an manchen Stellen auch mutiger sind als das, was wir aus Bremen kennen. So zum Beispiel im Shared-Space-Bereich: Da gibt es in Wien Straßen, da hätten wir uns in Bremen nicht herangetraut. Andererseits brauchen wir uns in Bremen in manchen Bereichen im Vergleich mit Wien absolut nicht zu verstecken.
Ralph Saxe
Mein Eindruck war, dass sie im öffentlichen Nahverkehr sehr viel weiter sind als wir, dass sie eine ganz andere Nutzer*innenzahl und auch eine ganz andere Qualität haben, als wir das haben. In den Radverkehr investieren sie stark. Wir haben uns zum Beispiel gemeinsam eine neue Fahrradstraße angesehen, in die sie für 1,8 Kilometer ca. 8 oder 10 Millionen € investiert haben. Das war vielleicht die beste Fahrradstraße, die ich in meinem Leben gesehen habe. Andererseits habe ich die beidseitig befahrbaren Radwege, auf denen auch Fahrzeuge unterwegs waren, die bei uns nicht dort fahren dürfen, nicht als sicher empfunden. Es gibt ein paar Showprojekte, die sehr vorbildlich sind, aber insgesamt gesehen hat man es als Radfahrer nicht so leicht. Ich finde, es gibt gute Bedingungen für den Fußverkehr in Wien, in Sachen Klima muss ich aber sagen: Das steckt auch mehr in den Kinderschuhen, als ich es erwartet hätte. Sie haben wieder einige gute Pilotprojekte, aber auch da müsste mehr gehen.
… über die Debattenkultur im Bereich Verkehr:
Michael Jonitz
Ich glaube, der Ton ist in Bremen ab einem gewissen Punkt ruppig. Wir haben in Wien nicht die politische Debatte mitbekommen, sondern uns wurde vorgestellt, wie die Projekte dort verlaufen, und in diesem Punkt wirken sie sehr aufgeräumt und organisiert.
Ralph Saxe
Mein Eindruck war, dass die Aufregung über Themen wie das aufgesetzte Gehwegparken in Wien nicht so ausgeprägt ist. Mein Eindruck war auch, dass man die politisch beschlossenen Dinge konsequenter durchsetzt. Wir waren beispielsweise in einer Straße, wo sie 200 Parkplätze komplett weggenommen haben – da gab es gar keinen Parkplatz mehr in der Straße. Wenn das beispielsweise in Schwachhausen passieren würde, dann würde die CDU versuchen, dort einen Riesenaufstand zu organisieren.
…über den Autoverkehr und Umbaumaßnahmen:
Michael Jonitz
Das ist genau das Beispiel, das ich als positiv in Wien empfunden habe. Sie haben einen Übersichtsplan, wann in welcher Straße Bauarbeiten anstehen, und planen dann mit zwei Jahren Vorlauf, welche Maßnahmen sinnvoll wären. Es geht ihnen nicht darum, Autos zu verbieten, sondern sich zu überlegen, welche Mobilitätslösung es gibt und ob das Auto in diesem Bereich tatsächlich benötigt wird. Dabei kommen auch die Wiener zu dem Ergebnis, ja, manche Leute brauchen in ihrem Alltag trotz aller Angebote weiterhin das Auto. Und dann wird im Einzelfall lösungsorientiert gehandelt, aber nicht, indem man sagt: Wir machen jetzt alle Autos hier raus. Sondern: Welche Lösungen können wir den Leuten anbieten, um sie mitzunehmen? Und das fand ich sehr positiv.
Ralph Saxe
Wir reden in Wien von der Fläche her über ganz andere Infrastrukturen. Da kann man zum Beispiel eine Spur wegnehmen, weil es genug Spuren gibt. Auch die Hinterhöfe in Wien sind viel größer – da kann man sehr viele Parkplätze noch unterbringen. Insofern haben wir es in Bremen mit engeren urbanen Strukturen zu tun, wo man nicht alle Sachen unterbringen kann, ohne dass sich jemand ungerecht behandelt fühlt.
… über die Wiener Linien:
Ralph Saxe
Die Wiener Linien sind natürlich in vielerlei Hinsicht ein großartiges Beispiel, weil sie so groß sind, so große Takte haben und weil sie es geschafft haben, durch Carsharing und Leihfahrräder multimodal unterwegs zu sein. Das ist mit viel Geld ermöglicht worden. Die Finanzierung erfolgt zum Teil dadurch, dass man das Parken deutlich teurer gemacht hat.
Michael Jonitz
Da würde ich ein Stück weit widersprechen. Die Sharing-Angebote von den Wiener Linien haben natürlich den Vorteil, dass sie aus einer Hand stammen. Aber was die Anzahl anbelangt, war ich etwas überrascht, wie wenig Fahrräder es da gibt. Das wäre zum Beispiel ein Punkt, wo wir uns, glaube ich, in Bremen nicht verstecken müssen.
… zur Finanzierung des ÖPNV:
Michael Jonitz
Die Finanzierung in Wien gelingt nicht allein über das 365-Euro-Ticket – das ist nur der Teil, den die Nutzer des ÖPNV bezahlen. Dazu kommt aber auch eine sogenannte Dienstgeberabgabe zum Beispiel. Das bedeutet, dass diese 365 € natürlich auch nicht kostendeckend sind und dementsprechend dort andere Finanzierungsquellen aufgemacht worden sind.
Ich erinnere mich, dass im Verkehrsentwicklungsplan drinstand, dass geprüft werden sollte, welche alternativen Finanzierungsmöglichkeiten es für den Bremer ÖPNV gibt. Da habe ich bisher aber noch keine Antworten zu erhalten, und dementsprechend sind die Wiener dann einen Schritt weiter. Nicht, dass ich mir diese Maßnahme unbedingt zu eigen machen möchte, aber ich freue mich immer über eine faktenbasierte Diskussion. Und diese Antworten, was in Bremen überhaupt möglich ist – auch gerade in der Verquickung mit Niedersachsen – da sind wir in Bremen leider im Stillstand verhaftet.
Ralph Saxe
Das haben wir in Bremen ja alles ausgiebig diskutiert. In der Programmatik meiner Partei stand das 365 €-Ticket mal drin. Wir haben uns dann teilweise auch weiterentwickelt, weil wir uns auch vorstellen könnten, einen tatsächlich ticketlosen ÖPNV zu machen. Dem liegt die Haltung zugrunde, dass man im Sinne von Teilhabe den öffentlichen Nahverkehr als Grundrecht begreift, was dann auch entsprechend finanziert werden sollte. Dass es nicht kostenlos ist, ist auch vollkommen klar, das kostet genauso viel wie ein ÖPNV, der durch Tickets finanziert ist. Aber es erhöht wahrscheinlich die Gerechtigkeit im Bereich Verkehr.
Michael Jonitz
Die CDU war schon ab 2019 für den kostenlosen Nahverkehr im Innenstadtbereich. Das heißt, wir verschließen uns diesem Thema nicht, aber wir müssen auch sehen, dass wir bei der BSAG ein Defizit im dreistelligen Millionenbereich haben. Da ist nicht geklärt, wie wir das finanzieren wollen.
… zum Nahverkehrsangebot in Bremen und möglichen Ausweitungen:
Michael Jonitz
Wir wollen natürlich einen stärkeren ÖPNV haben. Als Beispiele fallen mir die Anbindungen der Überseestadt, Osterholz und die Verlängerung der Straßenbahn ein, und da würde mir noch viel mehr einfallen. Wir haben am 20.08.25 den Antrag von uns diskutiert, ob wir nicht die Stufe 5 der Angebotsoffensive vorziehen und die Quartiersbusse schaffen können, um dann auch Borgfeld etc. mit einzubinden.
Ralph Saxe
Das mit der Angebotsstufe 5, das kommt mir bei der CDU jetzt wie ein Weitspringer vor, das heißt, man springt erstmal über eine große Fläche drüber und landet dann bei der Stufe 5. Dass aber die Stufen 1 und 2 erstmal die Voraussetzungen sind dafür, die man braucht, um die Stufe 5 zu machen, hat man dabei wohl anders bewertet.
… zur Umsetzbarkeit von Projekten in der Koalition:
Ralph Saxe
Es ist doch vollkommen logisch, dass die drei Parteien unterschiedliche Schwerpunkte haben, und da sind bei jedem auch No-Gos mit dabei. Wenn man in der Koalition irgendwie eine Einigung finden muss, dann muss man akzeptieren, dass bestimmte Themen nicht gehen. Wir müssen einen Antrag überhaupt erst mal mit den anderen beiden Fraktionen geeinigt bekommen. Mit dem einen Koalitionspartner ist das eine nicht zu machen und mit dem anderen ist das andere nicht zu machen. Dass wir uns vielleicht bei den Verkehrsfragen mit den Sozialdemokraten auch nicht immer ganz einig sind, ist klar – die Quartiersgarage war ja gerade so ein öffentlich zugängliches Beispiel. Dann macht man eben in dem Bereich nichts, weil man sich nicht einigen kann, und versucht dann die Dinge zu machen, bei denen man eine gemeinsame Schnittmenge hat – das ist normal. Aber es macht mir mehr Spaß in der Regierung zu sein, als am Spielfeldrand zu stehen und zu sagen: Ich weiß es alles besser.
Michael Jonitz
Das Schöne ist, dass ein halbes Jahr später unsere Anträge aufgegriffen werden und als Koalitionsergebnis präsentiert werden. Aber wir arbeiten bei aller Härte in der Diskussion auch kollegial zusammen hier im Parlament. Das haben wir an anderen Stellen auch schon erlebt, und ich glaube auch, dass ich am Horizont irgendwo eine Quartiersgarage schimmern sehe, aber mal gucken, wann die gebaut wird.
… zur Bremer Innenstadt:
Michael Jonitz
Wir haben große Herausforderungen in Bremen, was die Innenstadt anbelangt. Stichwort: Brücken – hoffentlich gibt es da auch für den ÖPNV eine Lösung. Aus gewissen Teilen dieser Stadt oder auch des niedersächsischen Umlandes wird das Auto eines der Hauptverkehrsmittel für die Innenstadt bleiben. Aber die Wege in der Innenstadt sind so kurz, dass man das auch mit dem ÖPNV organisieren kann. Zum Beispiel dadurch, dass in einem gewissen Kreis das Auto kostenlos am Rand stehen bleibt, an der Bürgerweide oder vielleicht sogar auch bei Park-and-Ride-Parkplätzen in Huchting – das steht auch in unserem kürzlich veröffentlichten Konzept. Da finden Sie auch was zum Fahrradparken, zum Beispiel. Also, und das ist ja der Geist dieses Papiers: dass wir sagen – sowohl als auch.
Ralph Saxe
Also ich finde, wir haben haufenweise Konzepte für die Innenstadt. Da kann man natürlich kritisieren, dass es schneller umgesetzt werden könnte, aber dass es die Konzepte nicht gibt, nehme ich gar nicht wahr. Dass wir Veränderungen vornehmen müssen, weil sich die Alltagsmobilität der Menschen verändert hat, liegt auf der Hand. Der Radverkehr hat von 2018 bis 2023 um 10 Prozent zugenommen, die Streckenlänge aber um 30 Prozent. Es gibt etwas mehr Autos. Die stehen aber noch länger bewegungslos am Straßenrand, weil die Autonutzung um mehr als 10 Prozent abgenommen hat. Wenn die Radfahrer*innen alle plötzlich Auto fahren würden oder im ÖPNV wären, dann würde weder der ÖPNV noch der Autoverkehr noch funktionieren. Das muss sich, sowohl in den Finanzen wie auch darin, wie wir das mehr in den Fokus nehmen, abbilden. Das tun weder wir als Koalition noch die Opposition richtig. Die Menschen bewegen sich anders, und gerade diese kurzen Wege, die der Kollege angesprochen hat, sind dafür geeignet, eben nicht das Auto dafür zu verwenden. Also von daher müssen wir den Autoverkehr reduzieren, die Alternativen stärken und die Lebensrealität der Menschen ernst nehmen und entsprechend auch Gelder darauf fokussieren, wie die Menschen unterwegs sind und wo die ganz klare Tendenz in dieser Stadt ist: Also Fußverkehr und Radverkehr liegen bei 30% jeweils, das ist eine Hausnummer.
Michael Jonitz
Wir haben 16 Jahre grüne Verkehrssenatoren gehabt. Wir haben jetzt eine sozialdemokratische Verkehrssenatorin, also die Sachen liegen auf dem Tisch, müssen umgesetzt werden, und wir probieren mit unseren Ideen noch einmal, den Anschub zu geben. Unser Motto war ja: Das Herz der Stadt wiederbeleben [Anm. von EE: Jonitz bezieht sich auf den Titel eines im August veröffentlichten CDU Positionspapier zur Bremer Innenstadt] – und das ist ja das, was wir wollen, diese Koalition im besten Sinne des Wortes endlich in Bewegung kriegen. Und da haben sie gerade selber zugegeben: mangelt es.
Ralph Saxe
Genau. Wir haben viel umgesetzt, auch in der Zeit. Es könnte natürlich eindeutig mehr sein, aber dass ich mich jetzt konzeptionell getrieben fühle, als jemand, der Verkehrspolitik seit 20 Jahren in dieser Stadt macht und viel an Konzepten geschrieben hat – das Gefühl habe ich nicht. Das wäre ja toll, wenn ich mich dauernd mit einem besseren Konzept auseinandersetzen müsste. Das spüre ich noch nicht. Also es gibt Ansätze, wo das schon funktioniert hat – das erkenne ich an.
Wir Danken Michael Jonitz und Ralph Saxe für das Interview.