Interview mit Joachim Steinbrück, Vors. von Selbstbestimmt Leben e.V.

Interview mit Joachim Steinbrück, Vors. von Selbstbestimmt Leben e.V. 1

Zur Person:

Joachim Steinbrück, geboren 1956, erblindete im Alter von 15 Jahren. Er studierte von 1976 bis 1983 Rechtswissenschaften an der Universität Bremen und arbeitete dort anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Nach seiner Promotion war er als Referent in der Erwachsenenbildung tätig und von 1990 bis 2005 als Richter am Arbeitsgericht Bremen. Von Juli 2005 bis April 2020 fungierte er als Landesbehindertenbeauftragter des Landes Bremen und setzte sich intensiv für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein. Nach seiner Pensionierung ist er weiterhin behindertenpolitisch aktiv. Seit Herbst 2024 ist er Vorsitzender von Selbstbestimmt Leben Bremen e.V. 

Einfach Einsteigen: Du hast am ursprünglichen Beteiligungsverfahren zum Umbau der Domsheide teilgenommen. Wie hast du diesen Prozess erlebt und zu welchen Ergebnissen ist man damals gekommen?

Im Zeitraum 2018 / 2019 hat es ein breites Beteiligungsverfahren zur Neugestaltung der Straßenbahn- und Bushaltestellen an der Domsheide gegeben. Damals wurden zahlreiche Varianten geprüft. Übrig blieben zwei Varianten, die es beide ermöglichen, auf der Nord-Süd-Achse 75 m lange Haltestellen für die Straßenbahnen und Busse zu bauen, die aus Richtung Bahnhof kommen bzw. dorthin fahren. Variante 2.3 sieht vor, dass die Haltestellen auf der Achse Bahnhof – Neustadt um ca. 50 m weiter in Richtung Wilhelm-Kaisen-Brücke verschoben werden und die Haltestellen der Linie 2 und 3 auf der Ost-West-Achse in etwa dort verbleiben sollen, wo sie sich heute befinden. Variante 5.1 sieht hingegen vor, die komplette Haltestellenanlage auf dem Platz zwischen Glocke, alter Post und dem Landgericht anzuordnen. Hierdurch entstehen deutlich kürzere Umstiegswege. Ergebnis des damaligen Beteiligungsverfahrens war, dass der Variante 5.1 eindeutig der Vorzug zu geben ist, weil sie insbesondere auch wegen der kürzeren Umstiegswege die gesetzlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt. 

Einfach Einsteigen: In Folge des Beteiligungsverfahrens, in dem die Variante 5.1 mit einer vereinten Haltestelle vor der Glocke favorisiert wurde, hatte sich auch die damalige Verkehrssenatorin hierfür ausgesprochen. Zu einem Beschluss des Senats kam es jedoch nicht. Die Variante 5.1 stieß auf Widerstand an mehreren Stellen. Nach den Landtagswahlen 2023 wurde dann im Koalitionsvertrag Variante 2.3 aufgenommen. Wie hast Du das wahrgenommen und welche Gründe wurden für die Änderung angegeben?

Wenn das Ergebnis eines breiten Beteiligungsverfahrens einfach über den Haufen geworfen wird, fragt man sich natürlich, warum man sich überhaupt beteiligt und eingebracht hat. In meiner früheren Funktion als Landesbehindertenbeauftragter hatte ich immer darauf hingewiesen, dass ich die Variante 2.3 aus drei Gründen für nicht barrierefrei halte: Es gibt lange Umstiegswege mit einer Länge von bis zu 195 m, eine langgezogene Steigung, die insbesondere für gehbehinderte Menschen eine besondere Erschwernis darstellt und die Nahverkehrsnutzer*innen müssen die Radwegverbindung auf der Achse Marktstraße – Dechanatsstraße queren, was zu Konflikten zwischen Fußgänger*innen und Radfahrer*innen führt.

Deshalb war es für mich nicht nachvollziehbar, dass der Senat im Februar 2024 beschlossen hat, die Variante 2.3 weiterzuverfolgen. Begründet wird dies mit den Belangen des Konzerthauses Glocke und Aspekten der Gestaltung des Platzes auf der Domsheide. Eine Haltestelle vor dem Konzerthaus wird von den Befürworter*innen der Variante 2.3 als störend angesehen. Meines Erachtens lassen sich die Belange der Stadtgestaltung und der Glocke aber mit einer gebündelten Haltestellenanlage auf der Domsheide vereinbaren.

Um dies zu erreichen könnte ein städtebaulicher Gestaltungswettbewerb durchgeführt werden. Meines Wissens war dies von der früheren Verkehrssenatorin auch so geplant. Wenn die Planung, die die Senatorin 2019 vorgelegt hat, damals weiterverfolgt worden wäre, hätten wir möglicherweise bereits heute eine neue Domsheide mit Flüstergleisen.

[Flüstergleise, auch als Masse-Feder-Systeme bekannt, sind spezielle Gleiskonstruktionen, bei denen die Schienen beweglich in einer federnden Unterkonstruktion gelagert sind, um Schwingungen und damit Lärm und Erschütterungen beim Bahnverkehr zu reduzieren.]

Einfach Einsteigen: Als Teil des „Bündnisses Domsheide für Alle“ hast Du im vergangenen Jahr zahlreiche Gespräche mit Politik, Verwaltung, Wirtschaftsvertreter*innen und Zivilgesellschaft geführt. Welche Erfahrungen, hast Du dabei gemacht?

Interessant für mich in den Gesprächen war, dass all diejenigen, die sich mit dem Thema Verkehr beschäftigen, die Variante 5.1 für die bessere Lösung halten, und zwar nicht nur, weil die Umstiegswege kürzer und barrierefrei sind, sondern weil die Haltestellenanlage in dieser Variante leistungsfähiger ist. Persönlich habe ich daher Zweifel daran, dass an der Domsheide bei der Variante 2.3 Umleitungsverkehre reibungslos abgewickelt werden können wie sie derzeit wegen der Sperrung der Bürgermeister-Smidt-Brücke für Busse und Straßenbahnen erfolgen. Die städtebaulichen Belange, die die Befürworter*innen der Variante 2.3 ins Feld führen, sind nach meinem Empfinden bisher nicht weiter konkretisiert worden. Dass bei der Verschiebung der Haltestellen in der Balgebrückstraße um ca. 50 m Richtung Wilhelm-Kaisen-Brücke allein die Länge des Umstiegwegs in Verbindung mit dem langgezogenen Gefälle für behinderte Menschen eine besondere Erschwernis darstellt, ist – so mein Eindruck – den Anhänger*innen der Variante 2.3 nicht bewusst oder wird von ihnen nicht ernst genommen.

Einfach Einsteigen: Anfang März wurden die Behindertenverbände in ein sogenanntes Gestaltungsgremium Domsheide eingeladen. Was wurde da vorgestellt und wie ist die Stimmung bei den Behindertenverbänden seitdem?

Neben dem Landesbehindertenbeauftragten und drei Vertretern des Landesteilhabebeirates haben Vertreter*innen aus der Verwaltung, die sich mit Stadtgestaltung und Verkehrsplanung beschäftigen, der BSAG, des Landesdenkmalpflegers sowie externe Expert*innen teilgenommen. In der Einladung war darauf hingewiesen worden, dass in dem Gremium auch die Bedenken des Landesbehindertenbeauftragten erörtert werden sollten. Diese wurden aber zunächst gar nicht thematisiert. Vielmehr wurden gleich zu Beginn Überlegungen zur Gestaltung der Domsheide auf Grundlage der Variante 2.3 vorgestellt. Erst auf ausdrückliches Nachfragen von Seiten der Vertreter behinderter Menschen wurde auf unsere Kritik eingegangen; sehr deutlich wurde dabei, dass an der Verschiebung der Haltestellen in der Balgebrückstraße in Richtung Wilhelm-Kaisen-Brücke festgehalten werden soll. Persönlich empfand ich das Gestaltungsgremium Domsheide als sehr frustrierend, weil ich das Gefühl bekam, mir soll etwas verkauft werden, was ich nicht haben will. Frust entstand bei mir vor Allem dadurch, dass die beiden Planungsvarianten nicht mehr ernsthaft gegeneinander abgewogen werden sollen, sondern die Variante 2.3 als gesetzt bzw. beschlossen gilt. Mein Eindruck war, dass es den anderen Interessensvertretern behinderter Menschen in dem Gremium ähnlich ging. Dank unserer Beharrlichkeit konnten wir am Ende aber immerhin erreichen, dass bis zur nächsten Sitzung des Gremiums am 20. Mai geklärt werden soll, ob und welche Möglichkeiten bestehen, die Umstiegswege kürzer zu gestalten als dies bisher in Variante 2.3 der Fall ist. Ich persönlich bin aber eher pessimistisch, dass es hier deutliche Verbesserungen geben wird. 

Einfach Einsteigen: Wir danken für das Gespräch!