Umlagefinanzierter, fahrscheinfreier Nahverkehr, dazu ein massiver Ausbau des Netzes, das ist das Einfach Einsteigen Basiskonzept. Schön und gut, sagen viele, das ist eine tolle Idee – in der Theorie. Aber wie soll das in der Praxis funktionieren? Und trägt das wirklich bei zu der von uns nachdrücklich geforderten, lange überfälligen Verkehrswende?
Tatsächlich ist der Gedanke eines fahrscheinfreien, umlagefinanzierten Nahverkehrs nicht neu: in Frankreich gibt es aktuell über 30 Kommunen, deren Nahverkehrssystem an manchen oder allen Wochentagen ohne voriges Fahrscheinlösen genutzt werden kann. Diese Gemeinden könnten ein Modell für Städte wie Bremen sein, die ein ähnliches System etablieren wollen. Doch es gibt kaum Erkenntnisse über die Effekte der Einführung fahrscheinfreien Nahverkehrs, da viel zu selten wissenschaftliche Forschungen in Auftrag gegeben wurden. Bis jetzt.
Dünkirchen, im Norden Frankreichs, führte 2015 die fahrscheinfreie Nutzung seines Nahverkehrssystems am Wochenende ein. Nach überwältigend positiven Reaktionen der Bevölkerung wurde die sogenannte „gratuité“ im September 2018 auf alle Wochentage ausgeweitet. Gleichzeitig startete eine Studie, die dokumentieren sollte, wie sich die Nutzung des Nahverkehrs und die Gewohnheiten der Bürger*innen durch das neue Angebot veränderten. Ende 2019 stellten die Forschenden die ersten Ergebnisse in einem ausführlichen Bericht vor.
Dieser liegt bislang nur auf Französisch vor – leider, denn die gewonnenen Erkenntnisse können für die Umsetzung eines fahrscheinfreien Systems in Deutschland extrem wertvoll sein. Zwar können die Ergebnisse nicht 1-zu-1 übertragen werden können, da die Ausgangslage in den jeweiligen Städten zwangsläufig verschieden ist. Gerade Dünkirchen, das mit Umland rund 200.000 Einwohner*innen zählt, eignet sich aber aufgrund seiner Größe als guter Vergleichsmaßstab für eine Stadt wie Bremen.
Noch liegt die Einführung des neuen Systems nicht lang zurück, und die derzeitige Pandemie verhindert zudem die Erhebung aktueller Daten – das macht es schwer, Aussagen über langfristige Folgen zu treffen. Doch schon die im vergleichsweise kurzen Untersuchungszeitraum festgestellten Entwicklungen sind bemerkenswert und erlauben eine gute Einschätzung dessen, was die Einführung eines fahrscheinfreien, umlagefinanzierten Nahverkehrskonzepts uns bringen kann. Was also sind die Schritte, die Dünkirchen unternommen hat, und welchen Effekt haben sie?
Was bietet das neue Netz?
Das Nahverkehrsangebot in Dünkirchen war lange Zeit extrem begrenzt, weshalb es nur ein verschwindend geringer Anteil der Bevölkerung (5%) regelmäßig nutzte. Um eine Steigerung der Fahrgastzahlen zu erreichen, nahm die Stadt eine Verbesserung des Angebots in Angriff. Das neue Verkehrssystem ist erheblich verdichtet und ausgebaut, so gilt eine regelmäßige Taktung von 10 Minuten, auch am Wochenende. Zudem wurde das Streckennetz um 30% erweitert. Dadurch wohnen nun 80% der Bevölkerung im Abstand von maximal 300 Metern zur nächsten Haltestelle.
Wie funktioniert die Finanzierung?
In Frankreich werden der öffentliche Verkehr und die Verkehrsinfrastruktur grundsätzlich nicht über den individuellen Steuerzahler finanziert, sondern über die Wirtschaft: Unternehmen mit mehr als 9 Angestellten entrichten die „Taxe Versement Transport“, eine sogenannte Unternehmenspauschalsteuer für den Verkehr. Die Steuer richtet sich nach der Finanzstärke des Unternehmens und wird mit 0,6% der Bruttolohnmasse erhoben1. In Dünkirchen wurde die Steuer auf 1,55% angehoben, in Kombination mit den Mitteln der Kommune ermöglicht sie die Aufrechterhaltung des ticketfreien Nahverkehrs2.
Wie sind die Auswirkungen auf die Fahrgastzahlen?
In Dünkirchen bewirkte die Umstellung des Verkehrssystems einen deutlichen Anstieg der Fahrgastzahlen: Im Vergleich zu 2017, dem letzten Jahr, an dem der Bus noch nicht durchgängig frei genutzt werden konnte, hat sich die Zahl der Nutzer*innen um 77% erhöht – von 9,3 Millionen im Jahr 2017 auf 16,5 Millionen im Jahr 2019.
Noch deutlicher sind die Zahlen mit Blick auf die Wochenenden: An Samstagen nutzten 2019 im Vergleich zu 2015 (also vor Einführung der fahrscheinfreien Nutzung am Wochenende) mehr als doppelt so viele Menschen den öffentlichen Nahverkehr, an Sonntagen beinahe 3-Mal so viele. Doch auch von 2017 auf 2019 zeigt sich eine deutliche Zunahme der Fahrgäste. Dies beweist: nicht nur der Kostenfaktor ist ausschlaggebend für eine erhöhte Attraktivität des Nahverkehrs, sondern insbesondere auch das bessere Angebot mit häufigeren Fahrten und mehr Haltestellen.
Doch was steckt hinter diesem Fahrgastanstieg? Fahren mehr Menschen mit dem Bus, oder fahren die einzelnen Personen häufiger?
Fahren die Dünkirchener häufiger als zuvor mit dem Bus?
Eindeutig: ja! Die Hälfte der Befragten gab an, den Nahverkehr häufiger oder deutlich häufiger zu nutzen als zuvor. Und ein weiterer wichtiger Aspekt, den die unten stehende Grafik verdeutlicht: Unter denjenigen, die häufiger Gebrauch von öffentlichen Transportmitteln machen, war rund ein Drittel, das den Bus zuvor noch nie benutzt hatte. Unter allen Fahrgästen sind demnach ca. 16% absolute Neunutzer*innen – ein nicht unerheblicher Anteil.
Was die Grafik ebenfalls zeigt: Auch Personen, die zuvor eine Dauerkarte besessen hatten, fahren nun zu einem erheblichen Teil häufiger mit dem Bus. Das ist insofern bemerkenswert, als Besitzer*innen einer Dauerkarte auch im alten System für mehr Fahrten nicht mehr zahlen mussten. Die Kostenersparnis durch das neue, umlagefinanzierte System kann also nicht der Grund dafür sein, dass diese Gruppe nun häufigere Fahrten zurücklegt. Vielmehr erklärt sich die Mehrnutzung durch die Verbesserungen des ausgebauten Netzes. Das zeigen auch die Gründe, die die Befragten für die Änderung ihres Fahrverhaltens angeben: während über 80% die geringeren Kosten nennen, geben knapp 40% die bessere Anbindung und höhere Verlässlichkeit als Motivation an.
Welche Erkenntnisse können wir für Bremen ziehen?
Ausschlaggebend für das Ziel, den Nahverkehr attraktiver zu machen, sind zwei Faktoren:
1. das Wegfallen der Hemmschwelle „Ticketkauf“, die uns sonst bei jedem Fahrschein überlegen lässt, ob wir ihn wirklich kaufen und
2. ein deutlich besseres Angebot sowohl in Bezug auf die Größe des Netzes als auch auf die Taktung.
Eine massive Angebotsverbesserung ist auch in Bremen dringend notwendig, und essenzieller Teil des Einfach Einsteigen Konzepts. Wenn diese erfolgreich umgesetzt wird und dazu der Nahverkehr noch umlagefinanziert und fahrscheinfrei ist, dann werden Bus und Bahn für einen deutlich größeren Teil der Bevölkerung zur Option – das legen die deutlich gestiegenen Fahrgastzahlen in Dünkirchen nahe. Ein solcher Anstieg ist erfreulich, aber nicht überraschend. Viel wichtiger ist die Frage: Wer steigt wirklich um? Für eine nachhaltige Mobilitätswende müsste der Nahverkehr vorwiegend für Autofahrer*innen das neue Mittel der Wahl werden, doch geschieht das wirklich durch das neue System? Auch zu dieser Frage bietet der Bericht aus Dünkirchen Antworten, die wir euch in einem weiteren Beitrag vorstellen.
1 Gehrke, Marvin/Groß, Stefan (2014): Fahrscheinfrei im ÖPNV. IVP-Discussion Paper.03/2014.Berlin. https://www.strassenplanung.tu-berlin.de/fileadmin/fg96/forschung_projekte/DP3_Gehrke_Fahrscheinfrei_im_%C3%96PNV.pdf
2 Verfaillie, Bertrand (2018): Transports gratuits: Comment les villes financent le „sans-ticket“. In: Le Courrier des Maires, online unter https://www.courrierdesmaires.fr/77084/transports-gratuits-comment-les-villes-financent-le-sans-ticket/