Ob ein besserer und fahrscheinfreier Nahverkehr der Schlüssel für die Verkehrswende ist, hängt stark davon ab, wer umsteigt. Neuste Erkenntnisse aus Dünkirchen geben Grund zur Hoffnung.
Unser Konzept eines umlagefinanzierten und fahrscheinfreien Nahverkehrs für Bremen ist realistisch – das beweisen Städte wie Dünkirchen im Norden Frankreichs. Dort hat die Stadtverwaltung im September 2018 ein solches Nahverkehrssystem eingeführt. Eine gleichzeitig begonnene Studie untersuchte die Auswirkungen des neuen Systems und erfasste unter anderem einen deutlichen Anstieg der Fahrgastzahlen (dazu mehr in unserem vorigen Blogartikel).
Doch wer sind die neu gewonnenen Fahrgäste? Für eine nachhaltige Verkehrswende müssen vor allem Autofahrer*innen auf Bus und Bahn umsteigen. Ein häufiges Argument gegen fahrscheinfreien Nahverkehr ist die Befürchtung, dass die neu gewonnenen Fahrgäste eben nicht aus dem PKW-Sektor, sondern aus dem Fuß- und Radverkehr stammen. Wie berechtigt ist diese Befürchtung? Dazu geben die Zahlen aus Dünkirchen erste Anhaltspunkte.
Bewirkt das neue System eine Abkehr vom Auto?
Die Sorge, gerade Autofahrer*innen könnten trotz eines attraktiveren Nahverkehrssystems nicht zum Umstieg bewegt werden, erwies sich in Dünkirchen als unbegründet: Unter allen Befragten, die die öffentlichen Verkehrsmittel seit der Umstellung häufiger nutzen, bestätigen 48%, vom Auto zum Nahverkehr gewechselt zu haben.
Dieses Ergebnis deckt sich mit den Resultaten der von Einfach Einsteigen vergangenes Jahr durchgeführten Umfrage: dort antwortete die Hälfte der Autofahrer*innen, bei einer Umstellung des Nahverkehrssystems nach dem Einfach Einsteigen Basismodell auf Bus und Bahn umsatteln zu wollen. Die Erkenntnisse aus Dünkirchen geben Anlass zur Hoffnung, dass diese Absicht auch umgesetzt wird.
Noch konkreter wird eine Abkehr vom Auto beim Blick auf eine weitere Zahl: 10% der Neunutzer*innen haben seit der Einführung des fahrscheinfreien Nahverkehrs einen Wagen abgeschafft oder eine Neuanschaffung verschoben. Somit sinkt auch die Zahl der PKWs pro Haushalt.
Geht der Ausbau des Nahverkehrsauf Kosten des Rad- oder Fußverkehrs?
Mobilität soll in Zukunft so nachhaltig wie möglich sein. Wenn der Ausbau des Nahverkehrs zu einer Verlagerung von Fuß- und Radverkehr auf Bus und Bahn führt, wäre dies für die Verkehrswende kontraproduktiv.
In Dünkirchen konnte diese Sorge in Bezug auf die Fußgänger*innen ausgeräumt werden, denn für den Großteil der Befragten (68%) hatte die Einführung des neuen Nahverkehrssystems keine Auswirkungen darauf, wie häufig sie zu Fuß gehen. Es sind also keine negativen Effekte zu befürchten, im Gegenteil: wie die nachstehende Grafik veranschaulicht, gehen durch das neue System im Vergleich sogar mehr Menschen häufiger zu Fuß (19%). Denn zum einen fördert das erweiterte Netz Möglichkeiten zu Spaziergängen, zum anderen wird der Fußweg zu den Haltestellen, der in Modal Splits häufig unerwähnt bleibt, von den Befragten als gute Option betrachtet, Fortbewegung zu Fuß und per Bus/Bahn zu kombinieren.
Doch wie sieht es mit den Fahrradfahrer*innen aus? In Bremen wird rund ein Viertel aller Wege mit dem Rad zurückgelegt. Damit hat die Stadt im Vergleich der Städte über 500.000 Einwohner den mit Abstand höchsten Radverkehrsanteil. Manche in der Fahrradstadt befürchten, dass sich dies durch ein besseres Nahverkehrsangebot ändern könnte. Diese Sorge scheint zunächst nicht unbegründet: In der belgischen Stadt Hasselt stiegen nach Einführung des kostenlosen Nahverkehrs 12% der Radfahrer*innen auf den ÖPNV um1, auch in Dünkirchen geben 7% der Befragten an, das Rad seltener zu benutzen als zuvor. Sieht man sich aber die Zahlen genauer an, wird ersichtlich: In Hasselt ist zwar ein Teil der Bevölkerung vom Fahrrad auf den Bus umgestiegen, doch allgemein ist der Anteil an mit dem Rad zurückgelegten Strecken in der selben Zeit gewachsen. Der Grund dafür? Die Stadt Hasselt hat gleichzeitig mit dem Ausbau des Nahverkehrs kräftig ins das Radwegenetz investiert und die Sicherheit für Radfahrer*innen im Straßenverkehr erhöht. In Dünkirchen wiederum ist die Radinfrastruktur sehr schwach ausgebaut, dementsprechend unpopulär ist das Fahrrad als Fortbewegungsmittel: 2018 wurden in Dünkirchen nur 2% aller Strecken mit dem Rad zurückgelegt; unter den Befragten der Studie besitzen 54% nicht einmal ein Fahrrad. Fehlen die Anreize für das Fahrrad, ist es nicht überraschend, wenn die Menschen es nicht nutzen.
Es ist also weniger der Nahverkehr als vielmehr der Umfang und Zustand der Radinfrastruktur, die beeinflussen, wie stark das Rad als Fortbewegungsmittel genutzt wird. Wenn die Infrastruktur überzeugt, steigen kaum Radfahrer*innen um. Stattdessen, das betonen auch die Befragten in Dünkirchen, kann der Nahverkehr den Radverkehr ergänzen, als „plan B“ für jene Strecken und Situationen, für die das Rad ungeeignet ist. In diesem Fall ersetzt der Bus jedoch weniger das Fahrrad als vielmehr das Auto, welches sonst für solche Gelegenheiten genutzt wird.
Das Schlagwort lautet: Multimodalität
Es zeigt sich also: Fahrscheinfreier Nahverkehr trägt zu einer Veränderung der Fortbewegungsgewohnheiten bei. Welcher Art diese Veränderungen sind, kann allerdings nicht pauschal gesagt werden, da dies von vielen weiteren Faktoren abhängt. In Dünkirchen hat sich die Befürchtung ein verbessertes Nahverkehrsangebot ginge auf Kosten des umweltfreundlicheren Fuß- und Radverkehrs nicht bewahrheitet. Stattdessen zeigt sich eine situationsabhängige Wahl und Verbindung der Fortbewegungsmittel. Anstatt in Konkurrenz zueinander zu treten, ergänzen sich der Nahverkehr, das Fahrrad und die Fortbewegung zu Fuß. Genau diese Kombination der Fortbewegungsmittel – die sogenannte Multimodalität – erachten wir als essenziell für eine nachhaltige Verkehrswende. Die Ergebnisse aus Dünkirchen legen nahe, dass die Verbesserung des Nahverkehrsangebots dazu beiträgt. Sie zeigen auch, dass ein signifikanter Anteil der Autofahrer*innen zu einem Umstieg auf Bus und Bahn bereit ist – vorausgesetzt, die Bedingungen stimmen.
Dazu ist aber nicht nur eine Verbesserung des Nahverkehrs ausschlaggebend. Vielmehr müssen auch Push-Faktoren greifen, die die Nutzung des Autos unattraktiver machen, ein Stichwort hier ist die Parkraumbewirtschaftung. Gleichzeitig müssen Rad- und Fußverkehr weiter gefördert werden. Zwar tut Bremen, gerade im Vergleich mit Dünkirchen, bereits viel für seine Radfahrer*innen, doch es ist immer noch viel zu wenig für eine ernsthafte Verkehrswende. Auch hier gilt: Mit den richtigen Anreizen wird der Radverkehr auch dann nicht abnehmen, wenn ein fahrscheinfreies Nahverkehrssystem eingeführt wird. Stattdessen können Nahverkehr, Radverkehr und Fußverkehr einander ergänzen und das Auto in der Stadt überflüssig machen.
Fahrscheinfreier Nahverkehr kann aber nicht nur ‚grün‘ sein – eine nachhaltige Verkehrswende bedeutet gleichzeitig Zugang zu Bus und Bahn für alle Angehörigen der Gesellschaft. Die sozialen Auswirkungen fahrscheinfreien, umlagefinanzierten Nahverkehrs diskutieren wir in unserem nächsten und finalen Blogbeitrag zur Studie aus Dünkirchen.
1 VIGS rapport 2019