Die soziale Dimension der Verkehrswende – ein Einblick aus Dünkirchen

In zwei Beiträgen haben wir beleuchtet, wie die Einführung des fahrscheinfreien Nahverkehrs in Dünkirchen die Fahrgastzahlen und das Fortbewegungsverhalten der Bürger*innen dort beeinflusst. Nun wollen wir auf einen weiteren wichtigen Bereich eingehen, in dem durch die Einführung fahrscheinfreien, umlagefinanzierten Nahverkehrs viel bewegt werden kann: den sozialen Sektor.

Die soziale Seite der Mobilitätswende rückt bislang häufig neben dem Streben nach ökologischer Nachhaltigkeit in den Hintergrund. Keine Frage: Die Senkung der CO2- und Schadstoffemissionen im Verkehrssektor ist immens wichtig. Aber um eine Chance zu haben, die Klimakrise abzuwenden, müssen wir ökonomische, ökologische und soziale Aspekte vereint verfolgen. Eine Umstellung im Verkehrsbereich muss also neben ökologischer Nachhaltigkeit auch soziale Gerechtigkeit zum Leitsatz haben.

Die Ergebnisse der Dünkirchner Studie deuten darauf hin, dass fahrscheinfreier Nahverkehr erheblich dazu beitragen kann, die soziale Gerechtigkeit zu erhöhen. Denn die Antworten der 2000 befragten Fahrgäste machen deutlich, dass gerade die sozial schwächsten Bevölkerungsgruppen deutlich von der Umstellung profitieren. Welche Gruppen sind das, und wodurch verbessert sich ihre Lage?

Mehr Möglichkeiten für Arbeitssuchende

Arbeitssuchende sind in mehrfacher Hinsicht darauf angewiesen, mobil zu sein: Sie müssen sich sowohl regelmäßig bei den Behörden als auch bei potenziellen Arbeitgeber*innen vorstellen. Zwar konnten Arbeitssuchende oder Personen mit geringem Einkommen in Dünkirchen vor der Umstellung ein ermäßigtes Ticket beantragen, diese Möglichkeit wurde jedoch kaum wahrgenommen – aus mehreren Gründen:

Tatsächlich wussten viele potenzielle Empfänger*innen nicht, dass ihnen ein ermäßigtes Ticket zustand – oder welche Auflagen für die Beantragung nötig sind. Dies zeigt, wie bürokratisch aufwendig die Antragstellung und -erneuerung war. Dazu kommt die möglicherweise empfundene Scham bzw. Stigmatisierung bei der Vorstellung auf dem zuständigen Amt. In Kombination stellen diese Faktoren eine hohe Hemmschwelle dar, wie eine Vertreterin des Transportwesens in Dünkirchen betont:

Für den Sozialtarif gab es ein ziemlich schwerfälliges administratives Vorgehen, was manchmal entmutigend sein konnte. Nicht unbedingt entmutigend, weil es ein administratives Vorgehen war, sondern entmutigend, weil es einem einen Stempel aufdrückt. Die Dauer des Vorgangs spielt natürlich auch mit rein, aber dieser Faktor, ein Art Marker zu haben sobald man dort ankommt hat einen großen Einfluss auf die Personen, die nicht unbedingt möchten, dass man weiß, dass sie Sozialhilfe beziehen.“

Und nicht zuletzt muss berücksichtigt werden: Auch ein ermäßigtes Ticket kostet Geld. Trotz des reduzierten Preises überstiegen die Kosten zum Teil den Betrag, den die Betreffenden ausgeben konnten – oder wollten.

Genau diese Probleme zeigen sich in Bremen, wo das „Stadtticket“ als ermäßigtes Monatsticket lange wenig Anklang fand – auch, weil die Berechtigten nichts von der Existenz eines solchen Tickets wussten1. Noch 2017 nahm weniger als 1/5 der Anspruchsberechtigten das ermäßigte Angebot wahr – gerade einmal 18,54%2. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Preis für das Stadtticket seit 2012 kontinuierlich anstieg: von 25€ auf 38,90€3 – ein nicht unerheblicher Betrag.

Und die Folgen der eingeschränkten Mobilität sind gravierend. Denn sie erschwert gleichzeitig eine Veränderung der Situation zum Positiven: Durch den kleinen Mobilitätsradius sinken die Chancen bei der Jobsuche, gleichzeitig verkleinert sich das soziale Umfeld. Am Ende steht eine zunehmende Gefahr der Isolation und des Ausschlusses aus der Gesellschaft, mit der gleichzeitig eine noch erhöhte Stigmatisierung einhergeht.

Mehr Teilhabe am sozialen Leben

Mit diesen Problemen sehen sich auch MigrantInnen und AsylbewerberInnen häufig konfrontiert. Für diese kommt erschwerend eine mangelnde Vertrautheit mit dem bürokratischen System hinzu, sowie häufig eine Sprachbarriere. Beides erschwert die Beantragung des Sozialtickets, jedoch auch die Navigation des Nahverkehrssystems im Allgemeinen. Das Wissen, einfach in Bus und Bahn einsteigen zu können, würde für sie eine enorme Erleichterung ihres Alltags bedeuten – und eine Verbesserung der Integrationschancen.

In Dünkirchen zeigt sich: durch den fahrscheinfreien Nahverkehr werden die öffentlichen Verkehrsmittel für Angehörige aller sozioökonomischen Schichten zugänglich, ohne Furcht vor Stigmatisierungen und endlosen Fahrten zu Behörden. Dadurch wird auch die Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben gestärkt: Zuvor blieben Mitglieder sozialer Gruppen in ihren Stadtteilen verhaftet, blieben „unter sich“, was soziale Segregation bedingt. Seit der Einführung des neuen Systems verlassen viele der Befragten deutlich häufiger ihr Zuhause und bewegen sich allgemein mehr in der Gesellschaft. Mobilität ist demnach gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Teilhabe, mit Freiheit, Autonomie und einer Zunahme an sozialen Kontakten.

Spaziergänge, soziale Kontakte, Alltagsbewältigung – was der Bus Senior*innen ermöglicht

Gerade auch für Rentner*innen, die häufig nicht mehr Auto fahren können oder wollen, ist der Nahverkehr von enormer Bedeutung. Das gilt auch in Bremen: In der von Einfach Einsteigen durchgeführten Studie befürwortete gerade die Gruppe der Ü60-Jährigen die Stärkung und Verbesserung des Nahverkehrs. Denn dieser ermöglicht Unternehmungen sowie das Aufrechterhalten (oder sogar Knüpfen) sozialer Kontakte und erleichtert den Alltag erheblich. Damit eröffnet der Zugang zu Bus oder Bahn eine sonst unmögliche Autonomie und wirkt sozialer Vereinsamung entgegen. Auch die Befragten in Dünkirchen empfinden die soziale Interaktion als besonders positiv, genau wie die bessere Effizienz des Netzes:

„Ich nehme den Bus um spazieren zu gehen, ich bin 83 und fahre nicht mehr Auto. Ich wohne allein also fahre ich mit dem Bus spazieren, erledige so die Einkäufe, gehe am Deich spazieren… für mich war das Netz vorher schon gratis, ich hatte das Seniorenabo, aber es ist viel besser als vorher!“

Welche Folgen hat die größere soziale Durchmischung?

Durch das neue Angebot wird der Nahverkehr Bevölkerungsgruppen zugänglich, die diesen vorher kaum oder gar nicht nutzten oder nutzen konnten. Die gesteigerte Nutzung durch Menschen verschiedenster Hintergründe eröffnet Möglichkeiten zum Austausch. Gleichzeitig können dadurch Spannungen zwischen sozialen Schichten zum Ausdruck kommen. So äußerten manche Befragten Skepsis ob der höheren Anzahl von Fahrgästen mit Migrationshintergrund, oder auch Angst vor einer „clochardisation“ (frei übersetzt: Überflutung der Fahrzeuge mit Obdachlosen). Zudem befürchteten einige durch die höhere Auslastung und Durchmischung einen Anstieg von Auseinandersetzungen in den Bussen.

All diese Sorgen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Tatsächlich ist die Zahl der registrierten Vorfälle aggressiven oder ungebührlichen Verhaltens in den Dünkirchner Transportmitteln seit Einführung des neuen Systems sogar gesunken, was die Verantwortlichen mit einem Effekt gesteigerter „sozialer Kontrolle“ erklären. Anstelle der befürchteten Auseinandersetzungen berichten Fahrgäste vermehrt von einer freundlicheren, gar geselligen Atmosphäre in den Bussen. Und der Kontakt zu einer Vielzahl Menschen unterschiedlichster Hintergründe wird als Möglichkeit wahrgenommen, den eigenen Horizont zu erweitern:

„Wenn man wie wir sein kleines Leben hat, seit Ewigkeiten im selben Viertel wohnt und seinen Freundeskreis hat verliert man schnell die Verbindung zu dem, was sich außerhalb davon abspielt. Man bewegt sich mit dem Auto fort, ist in seiner kleinen Blase eingesperrt. Mir gefällt es, jetzt so viel mitzubekommen, so vielen verschiedenen Leuten zu begegnen“.

Welche Bilanz können wir ziehen?

Die Erkenntnisse aus Dünkirchen zeigen: Die Etablierung eines fahrscheinfreien, umlagefinanzierten Nahverkehrssystems ist zwar kein Allheilmittel für soziale Ungleichheiten. Doch sie ermöglicht eine zunehmende Gleichstellung der Bevölkerung, wenn endlich alle Bürger*innen uneingeschränkt Zugang zu Bus und Bahn haben. Stigmatisierungen aufgrund von geringem Einkommen oder eines fehlenden Arbeitsverhältnisses entfallen damit zumindest im Nahverkehr, gleichzeitig wird gerade jenen Gruppen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, denen dies sonst verwehrt bleibt. Auch dem Risiko von sozialer Isolation kann dadurch vorgebeugt werden.

Von mehr Gleichstellung und weniger Teilung zwischen den sozialen Gruppen profitieren wir letztendlich alle. Und von einer besseren, freundschaftlichen Atmosphäre in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln sowieso.

1 Brandt, Michael: Geringes Interesse am Bremer Sozialticket. Monatsticket für Hartz-IV-Empfänger. Weser-Kurier vom 10.05.2010

2 Bremische Bürgschaft (2018): Mitteilung des Senatsan die Bremische Bürgerschaft (Landtag)vom 29. Mai 2018 – „Entwicklung der Ticketpreise im öffentlichen Personennahverkehr und Perspektiven für eine klimaverträgliche Mobilität für Alle“

3 Freie Hansestadt Bremen: Ermäßigtes Nahverkehrsticket / StadtTicket Bremen. Stand vom 25.11.2020