Mobilitätsarmut ist ein Begriff, der erst in den letzten Jahren zunehmend in Diskussionen über Verkehrspolitik und soziale Gerechtigkeit auftaucht. Ursprünglich aus der wissenschaftlichen und fachpolitischen Diskussion stammend, findet er nun zunehmend auch den Weg in die breite Öffentlichkeit. Seine genaue Definition und sein Umfang befinden sich allerdings noch in Entwicklung. Im Kern bezeichnet Mobilitätsarmut die Einschränkung sozialer Teilhabe aufgrund begrenzter Mobilitätsmöglichkeiten.
Lange bevor dieser Begriff populär wurde, haben wir uns bereits mit den dahinterliegenden Herausforderungen beschäftigt: Wie kann Mobilität für alle zugänglich gemacht werden, unabhängig von Einkommen, Wohnort oder persönlichen Umständen? Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Mobilitätsarmut hat uns geholfen, die Problematik rund um Nahverkehr und Mobilität für alle präziser zu fassen und neue Perspektiven auf bestehende Ungleichheiten zu entwickeln.
Was umfasst Mobilitätsarmut eigentlich?
Mobilitätsarmut ist ein vielschichtiges Phänomen, mit verschiedene Dimensionen. Zum einen geht es um die Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten – besonders wichtig ist hier der Umweltverbund aus öffentlichem Nahverkehr, Fuß- und Radwegen. Die zweite Dimension betrifft die Erreichbarkeit von Verkehrsangeboten, Zielorten und Aktivitäten – können Menschen Schulen, Arbeitsplätze, Ärzte oder Einkaufsmöglichkeiten in angemessener Zeit erreichen? Eine dritte Dimension ist die Erschwinglichkeit: Können sich Menschen die verfügbaren Mobilitätsoptionen überhaupt leisten? Hinzu kommen noch mobilitätsbezogene Zeitarmut – wenn lange Wege so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass kaum noch Zeit für Erholung oder soziale Aktivitäten bleibt – und die Exposition gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen. Diese Dimensionen können sich gegenseitig verstärken oder auch ausgleichen, etwa wenn ausreichend finanzielle Mittel oder Zeit vorhanden sind.
Mobilitätsarmut im ländlichen Raum
Diskutiert wurde Mobilitätsarmut zunächst in Bezug auf ländliche Räume. In ländlichen Regionen ist das Auto oft das alternativlose Hauptverkehrsmittel. Große Teile des VBN-Gebiets und insgesamt der Westen Niedersachsens sind davon besonders betroffen. Wenn der ÖPNV kaum oder schlecht ausgebaut ist, Direktverbindungen fehlen, Taktungen unzureichend sind oder die Fahrten zu lange dauern, ist ein Alltag ohne Auto kaum zu bewältigen. Rund 70 Prozent der Wege werden dort mit dem PKW zurückgelegt, nur 5 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In diesen ländlichen Kontexten sind wir dem Thema Mobilitätsarmut in unserer Arbeit zuerst begegnet – etwa im Zusammenhang mit unserer Mehr Bahn-Studie über die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken in Niedersachsen.
Mobilitätsarmut ist jedoch kein ausschließlich ländliches Phänomen. Auch in Städten wie Bremen kann sie auftreten. Damit werden wir uns jedoch in einem zweiten Blogartikel befassen, den wir in den kommenden Wochen veröffentlichen werden.
Besonders betroffene Gruppen
Besonders betroffen von Mobilitätsarmut sind Menschen, die sich kein Auto leisten können, (noch) keinen Führerschein haben oder aus verschiedenen Gründen nicht selbst fahren können oder wollen. Dazu gehören:
- Kinder und Jugendliche, die für Schule, Ausbildung und Freizeitaktivitäten mobil sein müssen, aber noch nicht selbst Auto fahren dürfen.
- Ältere Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fahren können oder wollen. Für sie ist Mobilitätsarmut oft auch mit sozialer Isolation verknüpft, wenn sie Freunde, Familie oder kulturelle Angebote nicht erreichen können.
- Menschen mit Behinderungen, für die Barrierefreiheit eine zentrale Voraussetzung für Mobilität ist.
- Menschen mit Migrationshintergrund, die oft mit besonderen Mobilitätshürden wie Sprachbarrieren konfrontiert sind.
Besonders problematisch ist die Situation für Menschen mit niedrigem Einkommen in ländlichen Regionen. Sie müssen oft einen überproportional hohen Anteil ihres Haushaltsbudgets für Mobilität aufwenden, wenn sie auf ein Auto angewiesen sind, oder sie verzichten auf Mobilität und damit auf gesellschaftliche Teilhabe.
Lösungsansätze für mehr Mobilitätsgerechtigkeit
Unser Bremer Konzept für einen umlagefinanzierten, im Angebot und Netz ausgebauten Nahverkehr lässt sich leider nicht 1:1 auf den ländlichen Raum übertragen. Dennoch setzen wir uns dafür ein, dass in einem niedersächsischen Landesrahmengesetz die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Kommunen eine Umlagefinanzierung einführen können. Die Regierungsparteien SPD und Grüne haben dies beide in ihren Wahlprogrammen zur Landtagswahl 2022 aufgegriffen. Wir erinnern die Beteiligten regelmäßig daran, dies auch umzusetzen. Aktuell steht in Niedersachsen besonders die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken im Fokus. Mit unserem Engagement im Lenkungskreis Reaktivierungen und unserer eigenen Mehr Bahn-Studie wollen wir dazu beitragen, dass insbesondere bisher vernachlässigte Räume wieder Bahnanbindungen erhalten. Leider werden bei der Bundesförderung zur Reaktivierung von Bahnstrecken ländliche Räume weiterhin benachteiligt.
Ein Ansatz, der vielerorts zur Bekämpfung von Mobilitätsarmut diskutiert wird, ist die Verankerung von Mobilitätsgarantien, die ein Mindestmaß an Mobilität und sozialer Teilhabe sicherstellen sollen. Ob dieser Weg überzeugt, wird die Praxis zeigen – denn was nützen Garantien, wenn die Angebote dafür nicht bereitstehen?
Fazit: Mobilitätsgerechtigkeit als gesellschaftliche Aufgabe
Der Ausbau des Nahverkehrs ist nicht nur eine Frage von Umwelt- und Klimaschutz. Es geht darum, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sein Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen und dort, wo das nur durch physische Ortsveränderung möglich ist, entsprechende ökologische Angebote bereitzustellen. Denn mobil zu sein bedeutet mehr als nur Verkehr von A nach B; es ist eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben. Eine sozial gerechte Verkehrswende muss daher selbstbestimmte Mobilität für alle ermöglichen – unabhängig von Wohnort, Einkommen, Alter oder anderen persönlichen Merkmalen. Eine umfassende Verkehrswende wird es nur geben, wenn wir diese Aspekte berücksichtigen.