‚Was nichts kostet ist nichts wert‘ – oder doch?

Warum fahrscheinfreier Nahverkehr nicht zu einer Abwertung von Bus und Bahn führt

Albert Einstein soll es gewesen sein, der einmal anmerkte, was nichts koste, sei nichts wert. Seitdem hat sich dieser Gedanke in unserer Gesellschaft hartnäckig gehalten. Auch unser Konzept für fahrscheinfreien Nahverkehr wird darum manchmal hinterfragt. Die Befürchtung: Wenn nicht mehr bewusst Geld für ein Ticket ausgegeben wird, geht auch die Wertschätzung für die Leistung verloren – sprich, für die Fahrt von A nach B.

Was dabei häufig übersehen wird: Es gibt in Deutschland andere etablierte, wirksame Systeme, die genau so funktionieren, wie unser Basiskonzept. Nämlich mit einer paritätischen Finanzierung über Monatsbeiträge. Bestes Beispiel ist unser Gesundheitssystem, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber monatlich den gleichen Prozentsatz zu den Gesamtkosten beisteuern. In unserem Basiskonzept wären es dann Bürger*innen und Unternehmen, die zu gleichen Teilen die Gesamtkosten tragen.

Die paritätische Finanzierung unseres Gesundheitswesens macht es uns möglich, bei Beschwerden jederzeit einen Arzt aufzusuchen, ohne in der Praxis/vor Ort für die einzelne Behandlung zahlen zu müssen. Gerade in Akutfällen ist das ein Luxus, der nicht selbstverständlich ist. Das zeigt ein Blick in Länder wie die USA. Wissen wir nun die Arztbehandlung weniger zu schätzen, nur weil wir beim Verlassen der Praxis nichts bezahlen müssen? Selbstverständlich nicht. Denn Gesundheit gilt als Teil des Gemeinwesens, auf das jede*r Bürger*in einen Anspruch hat.

Was, wenn wir nun Mobilität ebenfalls als Teil des Gemeinwesens betrachten – und warum auch nicht? Schließlich ermöglichen es uns Verkehrsmittel, die Strecken zurückzulegen, die nötig sind, um Einkäufe zu erledigen, Termine wahrzunehmen, zur Arbeit zu kommen oder Freund*innen und Verwandte zu besuchen. Sollte das nicht jedem Mitglied der Gesellschaft zustehen, und zwar ohne für jede einzelne Verbindung ein Ticket lösen zu müssen? Wenn wir unsere Sichtweise ändern und Mobilität als Gemeinwohl betrachten, dann ist es nur logisch, ohne Ticketlösen einfach in Bus und Bahn einsteigen zu können. Wie bei unserem Gesundheitssystem heißt das aber nicht, dass wir die Leistung nicht schätzen – nur, weil sie uns zusteht.

Tatsächlich kann vielmehr das Gegenteil der Fall sein.

Denn dadurch, dass in einem paritätischen System jede*r Einzelne einen finanziellen Beitrag zu dessen Aufrechterhaltung leistet, steigt auch die individuelle Anteilnahme am Zustand des Systems. Anders ausgedrückt: Wenn ich für etwas zahle, möchte ich auch, dass es gut ist. Das führt dazu, dass kollektiv ein größeres Bewusstsein dafür da ist, was das System für den/die Einzelne*n leistet, und auch ein größeres Interesse daran, dass das System weiterhin gut läuft. Das kann sich in zweierlei Hinsicht positiv auswirken:

Zum Einen in Hinblick auf die Politik. Denn wenn den Verantwortlichen signalisiert wird, dass die Bürger*innen Interesse an einem gut funktionierenden Nahverkehrssystem haben – schließlich zahlen sie ja dafür – dann wird auch weiterhin in die Verbesserung des Netzes investiert.

Zum Anderen kann so ein bewussteres, sorgfältigeres Umgehen mit der bereitgestellten Leistung und auch mit den Verkehrsmitteln selbst auf Seiten der Nahverkehrsnutzer*innen erzielt werden. Das wiederum hat anstatt des befürchteten Wertverlusts vielmehr eine Aufwertung des Nahverkehrs zur Folge.

Dass eine Umstellung auf fahrscheinfreien Nahverkehr eine Aufwertung von Bus und Bahn bewirkt, wird durch Erfahrungsberichte aus Kommunen bestätigt, wo die Bürger*innen bereits seit Längerem kein Ticket mehr ziehen müssen, um einsteigen zu dürfen. In Dünkirchen, beispielsweise gab in einer repräsentativen Umfrage über die Hälfte (55,8%) der Befragten an, dass sich seit der Einführung des neuen, fahrscheinfreien Nahverkehrssystems ihr Bild des Nahverkehrs zum positiven gewandelt hat1. Dies liegt natürlich auch darin begründet, dass das System ausgebaut und modernisiert wurde. Auch das Einfach Einsteigen Basiskonzept sieht die Kombination der beiden Standpfeiler a) Umlagefinanzierung und Fahrscheinfreiheit sowie b) Verbesserung des Angebots als essenzielle Grundlage für eine erfolgreiche Aufwertung und gesteigerte Nutzung des Nahverkehrs.

Wenn diese beiden Faktoren richtig ineinandergreifen, dann sind durchschlagende Erfolge zu verzeichnen: In Tallinn, das 2013 als erste Hauptstadt weltweit kostenlosen Nahverkehr für seine Bewohnenden einführte, hat sich die Einstellung zu den öffentlichen Transportmitteln signifikant zum Positiven gewandelt2. In Missoula, USA, wo ein lokales Busunternehmen 2015 ein 3-jähriges Modellprojekt ins Leben rief und seine Passagiere ohne Fahrschein mitfahren ließ, sind die kostenlosen Busse zum Aushängeschild der Stadt und Stolz ihrer Bewohner*innen geworden3. Und in Templin haben die Jahre fahrscheinfreien Nahverkehrs bewirkt, dass selbst nach dessen Abschaffung die Nachfrage sechs mal höher ist als vor seiner Einführung4. Das zeigt: vorausgesetzt er wird richtig umgesetzt, bewirkt fahrscheinfreier Nahverkehr einen Imagewandel von Bus und Bahn vom ‚klobigen Verkehrsmittel für Notfälle‘ zum ‚Verkehrsmittel der Wahl‘.

Ein letzter Aspekt, der in der ‚Wertverlust‘-Debatte häufig angesprochen wird, ist die Angst vor zunehmendem Vandalismus und Ausfälligkeiten in Bus und Bahn. Doch auch hier können wir uns auf die Erkenntnisse aus anderen Kommunen berufen, und die bestätigen: Seit der Einführung des fahrscheinfreien Nahverkehrs hat die Zahl der Vorfälle von Vandalismus tatsächlich nicht zu-, sondern eher abgenommen.

Und schließlich stehen dem Verkehrsnetz durch einen umlagefinanzierten Nahverkehr größere finanzielle Ressourcen zur Verfügung, die in die Instandhaltung und Reparatur des Netzes und der Verkehrsmittel investiert werden können.

Alles in allem gibt es also genügend Gründe, die dafür sprechen, dass die Einführung eines umlagefinanzierten Nahverkehrssystems keine Abwertung des Nahverkehrs bedeutet. Sie stellt vielmehr eine enorme Möglichkeit dar, diesen aufzuwerten und somit das zu erreichen, was wir uns alle wünschen: einen sozial fairen, attraktiven Nahverkehr, der keine Notlösung ist, und auch kein Verkehrsmittel zweiter Klasse, sondern das Fortbewegungsmittel der Wahl. Getreu dem Motto: Was von allen bezahlt wird, wird von allen wertgeschätzt.

1 Huré, Maxime (2019): Le Nouveau Réseau de Transport Gratuit à Dunkerque. De la Transformation des Mobilités aux Mutations du Territoire. VIGS

2 Cats, Oded, Susilo, Yusak.O. & Reimal, Triin (2017): The prospects of fare-free public transport: evidence from Tallinn. Transportation 44, 1083–1104. https://doi.org/10.1007/s11116-016-9695-5

3 Wahba, Monique (2015): Free transit attracts riders and helps communitis in more ways than one. MobilityLab. https://mobilitylab.org/2015/09/03/free-transit-attracts-riders-and-helps-communities-in-more-ways-than-one/

4 Gehrke, Marvin (2016): Fahrscheinfrei im ÖPNV –Eine Alternative für Großstädte. Ein Maßnahmen-sortiment und die Realisierbarkeit in Berlin. IVP-Discussion Paper, 4/2016. Berlin